Die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland und
der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung
- Links, Prognosen der letzten Jahre und ein paar kritische Bemerkungen -


Die folgenden Ausführungen beziehen sich hauptsächlich auf
Prognosen zum Wirtschaftswachstum der Jahre 2000 bis 2004.
Jüngere Prognosen für die Jahre ab 2005 behandelt eine Folgeseite.



Die Arbeitsgemeinschaft deutscher wirtschaftswissenschaftlicher Forschungsinstitute e V. veröffentlicht jedes Jahr ein Frühjahrs- und ein Herbstgutachten zur Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft.

An diesen Gemeinschaftsdiagnosen mit Prognosen zum Wirtschaftswachstum sind folgende Institute (die als die sechs führenden Wirtschaftsforschungsinstitute in Deutschland gelten) beteiligt:



Frühere Gemeinschaftsdiagnosen bzw. Zusammenfassungen finden Sie beispielsweise beim Münchener ifo Institut (s. o.) ab Frühjahrsgutachten 1999.
Beim HWWA Hamburg (s. o.) finden Sie alle Gemeinschaftsdiagnosen ab Herbst 1997.
Auch das DIW Berlin (s. o.) stellt die früheren Gutachten ab Frühjahr 2000 im Archiv Gemeinschaftsdiagnosen zur Verfügung und bietet über das Wochenberichte-Archiv Zugang zu noch weiter zurückliegenden Gutachten.


Wie treffsicher sind die in diesen Gutachten enthaltenen, bei ihrem Erscheinen viel beachteten Konjunkturprognosen? Dazu folgende Tabelle:


Prognosen und Realität - Wirtschaftsforschungsinstitute
Jahr Gutachten Wirtschaftswachstum
in Deutschland
 Prognose  tatsächlich
2000 Frühjahrsgutachten 1999 2,6 % 2,9 %
Herbstgutachten 1999 2,7 %
Frühjahrsgutachten 2000 2,8 %
Herbstgutachten 2000 3,0 %
2001 Frühjahrsgutachten 2000 2,8 % 0,8 %
Herbstgutachten 2000 2,7 %
Frühjahrsgutachten 2001 2,1 %
Herbstgutachten 2001 0,7 %
2002 Frühjahrsgutachten 2001 2,2 % 0,1 %
Herbstgutachten 2001 1,3 %
Frühjahrsgutachten 2002 0,9 %
Herbstgutachten 2002 0,4 %
2003 Frühjahrsgutachten 2002 2,4 % - 0,1 %  
Herbstgutachten 2002 1,4 %
Frühjahrsgutachten 2003 0,5 %
Herbstgutachten 2003 0,0 %
2004 Frühjahrsgutachten 2003 1,8 % 1,6 %
Herbstgutachten 2003 1,7 %
Frühjahrsgutachten 2004 1,5 %
Herbstgutachten 2004 1,8 %
2005 Frühjahrsgutachten 2004 1,5 %  
Herbstgutachten 2004 1,5 %
Frühjahrsgutachten 2005 0,7 %
   
2006 Frühjahrsgutachten 2005 1,5 %  
   
   
   


Hinweis: Die vom Statistischen Bundesamt angegebenen Wachstumsraten (prozentuale Jahreszuwächse des BIP in konstanten Preisen von 1995 - rechte Tabellenspalte) sind nicht um Kalendereffekte bereinigt. Zu den (in den meisten Jahren nur geringen) Auswirkungen solcher Effekte siehe weiter unten angegebene Pressemitteilungen des Stat. Bundesamtes (Links) und Auszug aus der Pressemitteilung vom 13.1.2005 zum Wirtschaftswachstum im Jahr 2004 (mit stärkeren Kalendereffekten).

Die tatsächliche wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre bis Ende 2004 und die zeitlich anschließenden Prognosen aus dem Frühjahrsgutachten 2005 (Gemeinschaftsdiagnose) zeigt eine vom Münchener ifo Institut veröffentlichte Grafik:


[Frühjahrsgutachten 2005]

                         www.cesifo-group.de > Wirtschaftsinformationen > Prognosen
                         > Die Lage der Weltwirtschaft und der deutschen Wirtschaft im Frühjahr 2005


Auf die Unterschiede zwischen Prognosen und Realität und die durchschittliche Abweichung kommen wir weiter unten noch zurück.


Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (oft auch als die "Fünf Weisen" oder die "Wirtschaftsweisen" bezeichnet) legt jedes Jahr Mitte November sein Jahresgutachten vor, zu dem die Bundesregierung im Januar in ihrem Jahreswirtschaftsbericht Stellung nimmt, wie im Stabilitätsgesetz (Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft) vorgeschrieben.

Die Bildung des Sachverständigenrates und seine Aufgaben sind in einem besonderen Gesetz geregelt (nachzulesen auf der o. a. Website des Sachverständigenrates).

Hier die Wachstumsprognosen für das jeweils folgende Jahr aus den Gutachten der letzten Jahre (die immer einen bestimmten Titel tragen) und das tatsächliche Wirtschaftswachstum:


Prognosen und Realität - Sachverständigenrat
Jahr Gutachten
Titel
Wirtschaftswachstum
in Deutschland
 Prognose  tatsächlich
2000 Jahresgutachten 1999/2000
"Wirtschaftspolitik unter Reformdruck"
2,7 % 2,9 %
2001 Jahresgutachten 2000/01
"Chancen auf einen höheren Wachstumspfad"
2,8 % 0,8 %
2002 Jahresgutachten 2001/02
"Für Stetigkeit - gegen Aktionismus"
0,7 % 0,1 %
2003 Jahresgutachten 2002/03
"Zwanzig Punkte für Beschäftigung und Wachstum"
1,0 % - 0,1 %  
2004 Jahresgutachten 2003/04
"Staatsfnanzen konsolidieren - Steuersystem reformieren"
1,5 % 1,6 %
2005 Jahresgutachten 2004/05
"Erfolge im Ausland - Herausforderungen im Inland"
1,4 %  


Die ebenfalls in den Gutachten enthaltenen Prognosen oder besser Schätzungen für das laufende Jahr, das bei Übergabe der Gutachten (jeweils Mitte November) schon fast abgelaufen war, sind in der obigen Tabelle nicht angeben. Sie seien hier vollständigkeitshalber nachgetragen:
- Wachstum 2000 laut Gutachten 2000/01: 3,0 %,
- Wachstum 2001 laut Gutachten 2001/02: 0,6 %,
- Wachstum 2002 laut Gutachten 2002/03: 0,2 %,
- Wachstum 2003 laut Gutachten 2003/04: minus 0,0 %,
- Wachstum 2004 laut Gutachten 2004/05: 1,8 %.

Auf die Unterschiede zwischen den Prognosen für das Folgejahr und dem tatsächlich eingetretenen Wirtschaftswachstum kommen wir noch zurück.


Nach Paragraph 9 des oben erwähnten Gesetzes über die Bildung des Sachverständigenrates nimmt das Statistische Bundesamt die Aufgaben einer Geschäftsstelle des Sachverständigenrates wahr. Die Tätigkeit der Geschäftsstelle besteht in der Vermittlung und Zusammenstellung von Quellenmaterial, der technischen Vorbereitung der Sitzungen des Sachverständigenrates, dem Druck und der Veröffentlichung der Gutachten sowie der Erledigung der sonst anfallenden Verwaltungsaufgaben.


Das Statistische Bundesamt hält ein großes Webangebot wirtschaftlicher Daten bereit. Hier eine Auswahl von Angaben zum Buttoinlandsprodukt (BIP) und Wirtschaftswachstum (reale Zunahme des BIP in %):


BIP der letzten Jahre  (und andere Angaben)

Lange Zeitreihen mit BIP ab 1970  (und anderen Angaben)

BIP der vergangenen Quartale  (und andere Angaben)

Auf einer anderen Seite habe ich noch einige Links zu Wachstumsraten (Tabellen des Statistischen Bundesamtes sowie des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder und des EU-Statistikamtes Eurostat) zusammengestellt.


Frühere Pressemitteilungen des Statistischen Bundesamtes mit ersten, vorläufigen Angaben zum Wirtschaftswachstum:


Die Pressemitteilung vom 13.1.2005 unter dem Titel "Wirtschaftliche Belebung im Jahr 2004" beginnt mit den Worten: "Nach ersten Berechnungen des Statistischen Bundesamtes hat sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2004 im Vergleich zum Vorjahr real um 1,7% erhöht. Nach der schwachen wirtschaftlichen Entwicklung in den vergangenen drei Jahren ist dies der stärkste Anstieg seit dem Jahr 2000 (+ 2,9%). Allerdings war der Kalendereffekt im Berichtsjahr mit + 0,5%-Punkten ungewöhnlich groß; nach Ausschaltung dieses Effekts ergibt sich für das Jahr 2004 eine Wachstumsrate des Bruttoinlandsprodukts von rechnerisch 1,1%."

Die Pressemitteilung enthält auch einen kurzen Rückblick bis zum Jahr 1994:


Bruttoinlandsprodukt in Preisen von 1995

Veränderung gegenüber dem Vorjahr:

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

+ 2,3%

+ 1,7%

+ 0,8%

+ 1,4%

+ 2,0%

+ 2,0%

+ 2,9%

+ 0,8%

+ 0,1%

- 0,1%

+ 1,7%

Im Jahr 2004 standen in Deutschland 4,7 Arbeitstage mehr als im Vorjahr zur Verfügung, woraus sich ein Kalendereffekt von + 0,5%-Punkten ergab. In den vorangegangenen Jahren waren die kalenderbedingten Änderungen der Wachstumsraten deutlich geringer ausgefallen. Nach Ausschaltung dieser Kalendereffekte ergeben sich rechnerisch folgende reale Veränderungsraten für das Bruttoinlandsprodukt:

1994

1995

1996

1997

1998

1999

2000

2001

2002

2003

2004

+ 2,4%

+ 1,8%

+ 0,8%

+ 1,5%

+ 1,7%

+ 1,9%

+ 3,1%

+ 1,0%

+ 0,1%

- 0,1%

+ 1,1%


 


Die Wachstumsrate 2004 wurde inzwischen geringfügig korrigiert. In einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 22.2.2005 heißt es:

Wie das Statistische Bundesamt bereits in seiner Schnellmeldung am 15. Februar mitgeteilt hat, ist das Bruttoinlandsprodukt, der Wert der in Deutschland erwirtschafteten Leistung, im vierten Quartal 2004 gegenüber dem Vorquartal saison- und kalenderbereinigt um real 0,2% zurückgegangen. Im dritten Quartal hatte die Wirtschaftsleistung gegenüber dem Vorquartal stagniert. Obwohl sich die konjunkturelle Belebung der ersten beiden Quartale damit in der zweiten Jahreshälfte nicht fortgesetzt hat, ergab sich für das Bruttoinlandsprodukt im Jahr 2004 eine Zunahme von real 1,6% gegenüber dem Jahr 2003; kalenderbereinigt allerdings nur ein Anstieg von 1,0%.

Der Durchschnitt der elf angegebenen Wachstumsraten von 1994 bis 2004 beträgt (ob kalenderbereinigt oder nicht) 1,4 %. Im Zehnjahreszeitraums von 1995 bis 2004 betrug das durchschnittliche jährliche Wachstum 1,3 %.


Eine umfassende Revision der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen, in der u. a. die Festpreisbasis durch eine Vorjahresbasis mit Verkettung ersetzt wurde (siehe spezielles Informationsangebot des Statistischen Bundesamtes, insbesondere Pressemitteilung, vom 28. April 2005) hat aber schon wieder zu rückwirkenden Veränderungen in den Wirtschaftsstatistiken geführt. Die neue Revision lässt die Wachstumsraten der letzten Jahre entweder unverändert wie 2004 (1,6 %) oder verbessert sie um bis zu 0,4 Prozentpunkte wie 2001 (nunmehr 1,2 % statt 0,8 %). Wir wollen das hier jedoch unberücksichtigt lassen, weil ja auch die bislang vorliegenden Gutachten und Prognosen des Sachverständigenrates und der Wirtschaftsforschungsinstitute (zuletzt das kurz zuvor am 26. April 2005 veröffentlichte Frühjahrsgutachten) noch auf den älteren Verfahren und Daten basieren. (Vgl. auch Grafik des ifo-Institutes weiter oben mit der Wirtschaftsentwicklung ab 2001.)


An dieser Stelle sei auch noch eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 18.7.2002 erwähnt, worin es heißt: "Das Wirtschaftswachstum im früheren Bundesgebiet sowie seit 1991 in Deutschland hat sich – gemessen an der Veränderung des Bruttoinlandsprodukts in Preisen von 1995 – seit 1970 kontinuierlich abgeschwächt. Betrug die durchschnittliche jährliche Veränderung von 1970 bis 1980 noch 2,8 %, so lag sie von 1980 bis 1991 bei 2,6 % und von 1991 bis 2001 bei 1,5 %." Diese Angaben findet man auch noch in den langen Zeitreihen nach dem Stand vom Februar 2005 (siehe auch im Archiv dieser Website: Stat. Bundesamt, Tabellen für die Gesamtwirtschaft 1970 bis 2004, akt. Febr. 2005).

Der letztgenannte Zehnjahreszeitraum von Ende 1991 oder Beginn 1992 bis Ende 2001 bezieht sich bereits auf das wieder vereinigte Deutschland. In den westlichen Bundesländern betrug die durchschnittliche jährliche Wachstumsrate - wie sich anhand von Angaben des Arbeitskreises Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder leicht errechnen lässt - im gleichen Zeitraum sogar nur 1,3 % und im Zehnjahreszeitraum von 1995 bis 2004 1,4 %. (Die zugrunde liegenden Angaben finden sich auch in einer Tabelle auf einer anderen Seite dieser Website.)

Die Abschwächung gegenüber den 70er und 80er Jahren wirkt jedoch weit weniger dramatisch, wenn man die BIP-Entwicklung nicht anhand der prozentualen Wachstumraten, sondern nach den absoluten Zuwächsen beurteilt. Dazu folgendes Diagramm zur Entwicklung des BIP in Westdeutschland, also im früheren Bundesgebiet ohne Berlin-West, von (Ende) 1970 bis 2004 in konstanten Preisen von 1995:

70
71
72
73
74
75
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77
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79
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96
97
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99
00
01
02
03
04


In den 34 Jahren von (Ende) 1970 bis 2004 hat sich das westdeutsche BIP ziemlich genau verdoppelt. Der absolute Zuwachs im letzten Jahr dieses Zeitraums ist nicht sehr viel geringer als im ersten Jahr. Die prozentuale Wachstumsrate ist allerdings - aufgrund des höheren Ausgangsniveaus - sehr viel magerer:


Bruttoinlandsprodukt Westdeutschlands
(alte Bundesländer ohne West-Berlin)
in konstanten Preisen von 1995
1970 861,754 Mrd. Euro  + 29,490 Mrd. € = 3,4 % (1971)  + 859,113 Mrd. € = rund 100 %
(Verdoppelung von Ende 1970 bis Ende 2004)

- Berechnungsstand Februar 2005 -
1971 891,244 Mrd. Euro
 . . . . . .
2003 1.693,644 Mrd. Euro  + 27,223 Mrd. € = 1,6 % (2004)
2004  1.720,867 Mrd. Euro


Wenn die Wachstumsrate konstant bliebe, würden die absoluten jährlichen Zuwächse immer größer (3,4 % Wachstum wären 2004 fast 58 Mrd. € in konst. Preisen v. 1995 gewesen) und das BIP würde allmählich geradezu astronomische, völlig illusorische Dimensionen erreichen. Auf die Realitätsferne solcher Wachstumsphantasien kommen wir später noch zurück.

Am gesamtdeutschen BIP hat Westdeutschland einen Anteil von über 85 %. Im Folgenden beziehen wir uns wieder auf Gesamtdeutschland. Auch die gesamtdeutsche Wachstumsrate betrug 2004 wie gesagt 1,6 %.


Das vermehrungsfreudige große Kapital will sich mit den heutigen Wachstumsraten nicht abfinden und macht dafür die Politik verantwortlich. So bemerkt beispielsweise Prof. Dr. Norbert Walter, Chefvolkswirt der Deutschen Bank, in einem Vortrag vor dem Ausschuss für Wirtschafts- und Währungspolitik des Bundesverbands deutscher Banken am 3. Mai 2004:

"Weil sich der wirtschaftliche Reformwille nicht durchsetzt, rechnen wir in den kommenden Monaten mit einem Anhalten des ‘Schmalspurwachstums’. Unsere Prognose für die Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts lautet rund 1,5 % in diesem und 1,7 % im kommenden Jahr."

Das sind ähnliche Zahlen wie die der Institute vom Frühjahr 2004 und gemessen am langfristigen Trend der letzten Jahrzehnte (wie ihn das Statistische Bundesamt als kontinuierliche Abschwächung konstatiert hat, s. o.) sind diese Werte gar nicht so übel - aber nur "Schmalspurwachstum" für den ’Breitspurvolkswirt‘ der Deutschen Bank.

Auch die Wirtschaftsforschungsinstitute sind mit dem Wachstum im Jahr 2005 nicht so recht zufrieden und meinen im Herbstgutachten 2004: "Das Jahr 2005 wird laut Prognose der Institute konjunkturell kein schlechtes Jahr. Die Wachstumsschwäche der deutschen Wirtschaft wird jedoch nicht überwunden. Die Wirtschaftspolitik muss alles daran setzen, die Wachstumskräfte zu stärken."

Abweichend von den anderen fünf Instituten prognostiziert übrigens das DIW Berlin statt 1,5 % für 2005 ein Wachstum von 2,0 %. "Es teilt die Auffassung der Mehrheit der Institute nicht, dass sich die Konjunktur im Jahr 2005 wieder abflacht, sondern geht von einer leichten Beschleunigung im Verlauf aus."

Der Sachverständigenrat betitelt sein Jahresgutachten 2004/05: "Erfolge in Ausland - Herausforderungen im Inland" und spricht von einer "andauernden Wachstumsschwäche" zur deren Behebung die binnenwirtschaftlichen Probleme angepackt werden müssten. Dabei gehen die Wirtschaftsweisen von einer BIP-Zunahme von 1,4 % im Jahr 2005 aus und meinen: "Berücksichtigt man die Tatsache, dass im kommenden Jahr weniger Arbeitstage zur Verfügung stehen, dann signalisiert diese Zuwachsrate ein in etwa unverändertes Tempo. Von einem durchgreifenden Aufschwung der Binnenwirtschaft ist Deutschland allerdings noch ein gutes Stück entfernt."

Circa 1½ Prozent Wirtschaftswachstum sind offenbar niemandem genug, bei weitem nicht, aber wie schon in den Monaten des Jahres 2005 immer deutlicher wurde, dürfte selbst eine Rate in dieser Höhe im laufenden Jahr nicht mehr zu erreichen sein.

Einem Bericht der NETZEITUNG vom 1. März 2005 ist zu entnehmen: "Der neue Vorsitzende des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bert Rürup, hat die Wachstumsprognose der so genannten Wirtschaftsweisen für 2005 nach unten korrigiert. «Ich gehe davon aus, dass nach dem Einbruch im letzten Vierteljahr des vergangenen Jahres das Wirtschaftswachstum 2005 nur bei etwa einem Prozent liegen wird», sagte er der «Bild»-Zeitung.
Die Wirtschaftsweisen waren ursprünglich für dieses Jahr von einem Wachstum von 1,4 Prozent in Deutschland ausgegangen. «So lange die Investitionen nicht stärker anziehen und die Bürger mit dem Angstsparen nicht aufhören, wird auch die Konjunktur nicht anspringen», betonte er. Weitere Ursachen für das schwache Wachstum liegen laut Rürup im hohen Ölpreis und im schwachen Dollar."

Auch die Wirtschaftsforschungsinstitute korrigierten in ihrem gemeinsamen Frühjahrsgutachten vom 26. April 2005 ihre Prognosen vom Frühjahr und Herbst des voraufgegangenen Jahres nach unten auf 0,7 % und verschoben ihre frühzeitig enttäuschten Hoffnungen auf 1,5 % Wachstum auf das Jahr 2006.


1999 lagen die Wirtschaftsforschungsinstitute und der Sachverständigenrat mit ihren Prognosen für 2000 recht gut und die Weisen hatten im Vorwort des Folgegutachtens die eher seltene Gelegenheit festzustellen: "Es ist sogar noch besser gekommen". - (D. h. um zwei zehntel Prozent besser als prognostiziert.)

Mit den Prognosen in den Gutachten von 2000 für 2001 lagen die Wirtschaftsforschungsinstitute und der Sachverständigenrat jedoch völlig daneben. In einer Mitteilung des Sachverständigenrates (den fünf Wirtschaftsweisen) an die Presse hieß es noch:

"Der Konjunkturmotor läuft rund, die deutsche Wirtschaft befindet sich im Aufschwung. Die Produktion nimmt in diesem Jahr, trotz der deutlichen Verteuerung des Rohöls, mit einem Anstieg von 3,0 vH so kräftig zu wie seit langem nicht mehr. Allerdings ist dies im Vergleich mit den anderen Ländern des Euro-Raums nur unterdurchschnittlich; zusammen mit Italien bildet Deutschland weiterhin das konjunkturelle Schlusslicht. 
Im Verlauf des Jahres 2001 wird sich der Aufschwung festigen und an Breite gewinnen: Die Binnenachfrage, getragen von einer lebhaften Investitionstätigkeit und anziehenden Konsumausgaben, wird den Export als konjunkturelle Antriebskraft ablösen. Geprägt wird die wirtschaftliche Entwicklung durch die Effekte des Ölpreisschocks, einer sich normalisierenden Weltkonjunktur und expansiven finanzpolitischen Impulsen. Per saldo ist im Jahre 2001 mit einer Zunahme des realen Bruttoinlandsprodukts um 2,8 vH zu rechnen.
Der Titel des Jahresgutachtens 2000/01 lautet: ‘Chancen auf einen höheren Wachstumspfad’."

Ganz ähnliche Prognosen stellten die Wirtschaftsforschungsinstitute. Erreicht wurden aber nur 0,8 %.

Schon vor dem Ende des Jahres waren die Weisen klüger geworden und meinten im Vorwort zum Jahresgutachten 2001/02 (vorgelegt Mitte November 2001) rückblickend:

"Von dem Jahr 2001 haben wir uns alle mehr erhofft, beim wirtschaftlichen Wachstum ebenso wie bei der Beschäftigung. Unterschätzt wurden die tiefen Bremsspuren, die die kräftig gestiegenen Energiepreise, die merklichen Verteuerungen bei den Nahrungsmitteln und die starke konjunkturelle Abkühlung der nordamerikanischen Wirtschaft letztlich hinterließen. Dass in Deutschland die Produktion kaum noch anstieg und die Arbeitslosigkeit wieder zunahm, hatte sich schon in den Monaten vor den Terroranschlägen auf die Vereinigten Staaten am 11. September 2001 abgezeichnet. Aber durch diesen Schock und aufgrund des am 7. Oktober begonnenen Kriegs gegen terroristische Ziele in Afghanistan ist jede Hoffnung, dass es noch vor Jahresende eine Wende zum Besseren hin geben könnte, verflogen."

Für 2002 prognostizierten die Weisen dann (wie aus den obigen Tabellen zu ersehen) 0,7 %, nachdem die Institute (im Herbst) 1,3 % vorausgesagt hatten. Tatsächlich erreicht wurden nur 0,1 %.
Ein Jahr später legten die Institute (im Herbstgutachten 2002) die Latte für 2003 auf 1,4 %, der Sachverständigenrat (im November 2002) auf 1,0 %. Die Latte wurde mit minus 0,1 % gerissen.
Dagegen wurde in den Prognosen von 2003 das Wirtschaftswachstum des Jahres 2004 (1,6 %) sowohl von Forschungsinstituten (1,7 % im Herbst 2003) als auch vom Sachverständigenrat (1,5 % im Nov. 2003) endlich mal wieder gut vorhergesagt.

Die Prognosen aus dem Jahr 2004 für 2005 dürften sich jedoch wie gesagt nicht bestätigen, denn daran glauben die Wirtschaftswissenschaftler inzwischen selbst nicht mehr (siehe oben erwähnte Äußerung von Prof. Rürup und Frühjahrsgutachten 2005 der Institute).


Ziehen wir (anhand der obigen Tabellen) ein kurzes Fazit und vergleichen die Prognosen von 1999 bis 2003 mit der tatsächlichen Entwicklung im jeweils nachfolgenden Jahr, also dem realen Wirtschaftswachstum in den Jahren 2000 bis 2004:

Jahr des Gutachtens:   -1999-   -2000-   -2001-   -2002-   -2003-   Fünfjahresdurchschnitt:
Forschungsinstitute im Frühjahr:   2,6 %   2,8 %   2,2 %   2,4 %   1,8 %   rd. 2,4 %
Forschungsinstitute im Herbst:   2,7 %   2,7 %   1,3 %   1,4 %   1,7 %   rd. 2,0 %
Sachverständigenrat im November:   2,7 %   2,8 %   0,7 %   1,0 %   1,5 %   rd. 1,7 %
Prognosezeitraum:   -2000-   -2001-   -2002-   -2003-   -2004-  
tatsächliches Wirtschaftswachstum:   2,9 %   0,8 %   0,1 %   - 0,1 %   1,6 %   rd. 1,1 %

In den o. a. fünf Jahren verfehlten die Frühjahrsprognosen der Wirtschaftsforscher das tatsächliche Wachstum (des jeweiligen Folgejahres) um 0,3, 2,0, 2,1, 2,5 und 0,2 Prozentpunkte, das ergibt eine durchschnittliche Abweichung von rd. 1,4 Prozentpunkten.
Bei den näher am Prognosezeitraum liegenden Herbstgutachten betrug die durchschnittliche Abweichung 0,2, 1,9, 1,2, 1,5 und 0,1 Prozentpunkte, im Durchschnitt rd. 1,0 Prozentpunkte.
Die jeweils Mitte November herausgegebenen Prognosen der Wirtschaftsweisen lagen um 0,2, 2,0, 0,6, 1,1 und 0,1 Prozentpunkte daneben, im Durchschnitt um rd. 0,8 Prozentpunkte.

Man könnte vielleicht erwarten, dass sich die Abweichungen nach oben und unten in etwa die Waage hielten und sich im Laufe der Zeit weitgehend ausglichen. Das ist aber zumindest in den o. a. fünf Jahren nicht der Fall gewesen. Vielmehr fielen die Prognosen im Durchschnitt eindeutig zu hoch aus:

Das tatsächliche Wachstum betrug etwa 1,1 % im Fünfjahresdurchschnitt. Die (im jeweiligen Vorjahr abgegebenen) Frühjahrsprognosen der Wirtschaftsforschungsinstute lagen im Durchschnitt um rd. 1,3 Prozentpunkte und ihre Herbstprognosen um rd. 0,9 Prozentpunkte darüber. Die Prognosen in den Jahresgutachten des Sachverständigenrates lagen durchschnittlich um rd. 0,7 Prozentpunkte darüber.

Auch wenn niemand den Wissenschaftlern einen Vorwurf machen kann, wenn sie manchmal mit ihren Prognosen kräftig danebenhauen, und obwohl sich die Prognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute und des Sachverständigenrates für das letzte Jahr (2004) recht gut bewahrheitet haben, stellt sich im Rückblick doch die Frage: Wieso diese offensichtliche Grundtendenz zu überhöhten Erwartungen?


Es kann hier dahingestellt bleiben, wie genau das "tatsächliche" Wachstum der Vergangenheit nach zwischenzeitlichen Revisionen der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnungen mit weiter zurückliegenden Prognosen vergleichbar ist. Umfassende VGR-Revisionen werden vom Statistischen Bundesamt alle fünf bis zehn Jahre durchgeführt wie die - hier noch nicht berücksichtigte - VGR-Revision 2005 und die voraufgegangene von 1999, als das ESVG 1995 (Europäisches System Volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen) eingeführt wurde.

Gleichwohl hier noch einige Prognosen aus früheren Jahren (ab 1994, aus diversen Internet-Quellen zusammengetragen, nicht ganz vollständig). Sie beziehen sich - wie im obigen Fazit zu den Gutachten von 1999 bis 2003 - immer auf das folgende Jahr:

Jahr des Gutachtens:   -1994-   -1995-   -1996-   -1997-   -1998-
Forschungsinstitute im Frühjahr:   ...   ...   2,5 %   2,75%   2,7 %
Forschungsinstitute im Herbst:   3,0 %   2,5 %   2,5 %   2,8 %   2,3 %
Sachverständigenrat im November:   3,0 %   ...   2,5 %   3,0 %   2,0 %
Prognosezeitraum:   -1995-   -1996-   -1997-   -1998-   -1999-
tatsächliches Wirtschaftswachstum:   1,7 %   0,8 %   1,4 %   2,0 %   2,0 %


Ist vielleicht ein gewisser (wenn auch immer wieder von Mahnungen an die Politik begleiteter) Optimismus einfach Pflicht? Schließlich gilt das - von wissenschaftlichen Ratschlägen gesegnete - Wachstum als der Normalfall, und gelegentliche kleine Krisen will sicherlich keiner herbeireden. Devise muss doch sein: "Lang anhaltendes, kräftiges Wachstum" ist möglich, wenn wir nur unsere "Hausaufgaben" richtig machen.

Bezeichnenderweise schrieben die Wirtschaftsweisen, als das Wachstum des Jahres 2001 um 2 Prozentpunkte hinter den Erwartungen zurückblieb, im Vorwort des bereits erwähnten Jahresgutachtens 2001/02: "In einer Zeit, in der die weltweit fragile wirtschaftliche und politische Lage das Zukunftsvertrauen der Investoren und privaten Haushalte auch in Deutschland arg strapaziert, muss man aufpassen, dass daraus nicht ein sich verfestigender Pessimismus hinsichtlich der Möglichkeiten erwächst, die eigenen Antriebskräfte zu mobilisieren und sich so selbst zu helfen. Solche Möglichkeiten gibt es durchaus, wie wir in diesem Gutachten darlegen." - (Anscheinend ist aber nicht so viel daraus geworden.)

Neigen unsere Wirtschaftswissenschaftler - bei aller Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Situation - zu chronischem Zweckoptimismus im Hinblick auf die Wachstumsmöglichkeiten? Geht es vielleicht auch weniger darum, Wirtschaftswachstum zu prognostizieren, als es zu propagieren?

Einen ähnlichen Gedanken fand ich später in einer (hier archivierten) Internet-Publikation mit einem Vortrag von Karl-Heinz Brodbeck aus dem Jahr 2001 unter dem Titel: "Warum Prognosen in der Wirtschaft scheitern" (gefunden bei www.zukunft-ennstal.at):
"Prognosen sollen gar nicht die tatsächliche Entwicklung vorhersagen, sie sollen vielmehr Einfluß nehmen auf den wirtschaftlichen Verlauf. Sie sollen gute Stimmung verbreiten. Insofern haben Politiker den Sinn von Wirtschaftsprognosen oft besser verstanden als Ökonomen."
"Die Prognose dient nicht der Vorhersage eines tatsächlichen Verlaufs, die Prognose soll Handlungen auf eine bestimmte Weise verändern oder Veränderungen verhindern", so der frühere Mitarbeiter des ifo-Instituts, der "sozusagen vor der eigenen Tür kehren" möchte.
Der Ökonom Brodbeck wörtlich: "Ich fordere die Ökonomen eigentlich nur auf, ehrlich zu sein und zuzugeben, daß sie häufig nur Luftnummern veranstalten, mit beeindruckenden Zahlenkolonnen und mathematischen Anhängen (die außer einigen jungen Doktoranden doch niemand liest) ..."

Und als Wachstumsskeptiker frage ich: Dient der ganze Konjunkturhokuspokus nicht vor allem dem Zweck, den defätistischen Gedanken abzuwehren, dass das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs fast ununterbrochen andauernde Wirtschaftswachstum nicht ewig so weitergehen kann? Geht es darum, die Reputation der Wissenschaft einzusetzen, um uns alle auf Wachstum einzuschwören?


In einer Pressemitteilung zu dem oben bereits kurz erwähnten Frühjahrsgutachten 2005 klagen die führenden deutschen Wirtschaftsforschungsinstitute:

"Im Zeitraum von 2001 bis 2004 ist das reale Bruttoinlandsprodukt in Deutschland durchschnittlich pro Jahr nur um 0,6 % gestiegen. In der wirtschaftspolitischen Diskussion wird dies von Vielen als Ausdruck einer ungewöhnlich schwachen konjunkturellen Entwicklung interpretiert, die man auch mit kurzfristig wirkenden Maßnahmen bekämpfen müsse. Die Institute haben bereits in früheren Diagnosen darauf hingewiesen, dass sie darin vor allem die Folge eines rückläufigen trendmäßigen Wachstums sehen. Diese These wird in dem vorliegenden Gutachten empirisch untersucht. Es zeigt sich, dass die Trendwachstumsrate in Deutschland seit Anfang des vergangenen Jahrzehnts stetig bis auf 1,1 % zurückgegangen ist. Im Gegensatz dazu bewegt sich die Trendwachstumsrate im Euroraum (ohne Deutschland) seit etwa 30 Jahren um Werte von etwas über 2 %, die der USA um 3 %. Im internationalen Vergleich zeigt sich damit, dass sich die Wachstumsperformance Deutschlands nicht nur in den Jahren seit der Jahrtausendwende, sondern seit etwa 15 Jahren verschlechtert hat."

Und dann bricht wieder der mahnende Zweckoptimismus unserer Wirtschaftswissenschaftler durch: "Nur wenn weitreichende Reformen gelingen, kann die Wachstumsschwäche in Deutschland überwunden werden, und zwar schon innerhalb eines überschaubaren Zeitraums. Dies belegen die Erfahrungen jener europäischer Länder, die wie Irland, Finnland oder Großbritannien einen ähnlichen Wechsel vollzogen haben."

So werden hierzulande in der wirtschaftswissenschaftlichen und wirtschaftspolitischen Diskussion anhand von abstrakten, oberflächlichen Wachstumsraten internationale Vergleiche gezogen, als ob Ökonomie nichts mit Geographie und Demographie zu tun hätte. Zu den namentlich genannten Ländern ein paar ganz kurze Anmerkungen:

Die USA sind ein riesiges, im Gesamtdurchschnitt dünn besiedeltes Masseneinwanderungsland. (Kritsche Stimmen wie www.npg.org sprechen allerdings schon von amerikanischer Überbevölkerung.) Zwischen den beiden letzten Volkszählungen von 1990 und 2000 ist die US-Bevölkerung um mehr Menschen gewachsen, als Kanada (immerhin Mitglied der G7) Einwohner hat. Dieser Zuwachs der US-Bevölkerung in nur zehn Jahren entspricht etwa 40 % der Gesamtbevölkerung Deutschlands. Das (im langfristigen Durchschnitt) kräftige amerikanische Wirtschaftswachstum muss man also auch vor dem Hintergrund des enormen Bevölkerungswachstums und der immer noch vorhandenen räumlichen Expansionsmöglichkeiten sehen.

Irland hat etwa so viele Einwohner wie Rheinland-Pfalz und gut halb so viel wie London. Unter dem Segen von EU-Förderungsmitteln hat sich das ehemalige Armenhaus und Auswanderungsland (das nun aber neben einem für europäische Verhältnisse kräftigen natürlichen Bevölkerungswachstum auch Zu- bzw. Rückwanderung verzeichnet) sehr gemausert.
Mit besonders niedrigen Unternehmenssteuern hat der "keltische Tiger" (eigentlich wohl mehr eine europäische Wildkatze) auch viele ausländische Investoren ins Land gelockt - eine oft propagierte Methode, die aber umso weniger funktionieren würde, je mehr sie auch andere Länder praktizierten, weil sich dann die erhofften Wettbewerbsvorteile gegenseitig neutralisieren würden.

Auch den Finnen geht es anscheinend ökonomisch und sozial ganz gut. Herzlichen Glückwunsch. Ohne Probleme wie die deutsche Wiederveinigung ist das finnische Pro-Kopf-BIP etwa so hoch wie im wieder vereinigten Deutschland.
Wirtschafts- und bevölkerungsgeographisch gibt es allerdings zwischen beiden Ländern gewisse Unterschiede, die gelinde gesagt den Vergleich erschweren und vielleicht auch von Ökonomen nicht ganz außer Acht gelassen werden sollten. Allein der Regierungsbezirk Düsseldorf hat etwa so viele Einwohner wie ganz Finnland. Dabei beträgt die durchschnitlliche Bevölkerungsdichte in Finnland (zugegeben ein Land mit ganz anderen klimatischen Bedingungen als Deutschland) gerade mal 15 [fünfzehn] Einwohner pro Quadratkilometer, im Reg.-Bez. Düsseldorf (im ach so "wachstumsschwachen" Nordrhein-Westfalen) sind es beinahe 1.000 [eintausend Menschen je Quadratkilometer].

Und ob Großbritannien, das einzige von den oben genannten Ländern, das hinsichtlich seiner ökonomischen, demographischen und geographischen Dimensionen einigermaßen mit Deutschland vergleichbar ist, auch als Vorbild für wirtschaftliche Dynamik aus eigener Kraft gelten kann, darf bezweifelt werden. Nach dem endgültigen Aus für Rover verfügt die klassische Wirtschaftsnation beispielsweise über keine nennenswerte Automobilindustrie mehr. In Deutschland, Frankreich, Italien, Japan und den USA wäre das wohl unvorstellbar.
Offenbar hat Großbritannien aber auch seine starken Seiten, doch wie wäre es um seine gesamtwirtschaftliche "Wachstumsperformance" bestellt, wenn es ohne einen wichtigen wirtschaftsgeographischen Vorteil auskommen müsste, den beispielsweise Deutschland nicht hat: das Mineralöl unter der Nordsee? (Von diesen Ölvorkommen hat übrigens auch Dänemark eine ordentliche Portion abbekommen und ganz besonders auch Norwegen.)

Diese Ölreserven sind jedoch endlich. Wie wird es sich auf die britische Wirtschaft auswirken, wenn Großbritannien früher oder später vom einem großen Ölexporteur wieder zu einem großen Ölimporteur wird? - Womit Deutschland einen seiner bedeutendsten Öllieferanten neben Russland und Norwegen verliert und einen zusätzlichen Nachfragekonkurrenten bekommt. Doch schon heute ist die weltweit steigende Ölnachfrage ein weltwirtschaftliches Problem und bremst über den Ölpreis auch das Wirtschaftswachstum in Deutschland. Letztlich heißt das aber nichts anderes, als dass sich das Weltwirtschaftswachstum selber bremst.


Wenn langsam nachlassendes Wirtschaftswachstum unser unabwendbares Schicksal ist (wodurch wir ja im Durchschnitt zumindest nicht ärmer würden), machen wir uns mit der gegenwärtigen politischen Diskussion in Deutschland das Leben nur unnötig schwer und brauchen uns nicht zu wundern, wenn mancher Reformschuss nach hinten losgehen wird.

In diesem Zusammenhang ist ein Vorschlag zu erwähnen, der sich offenbar rasant wachsender Beliebtheit erfreut, nämlich die allgemeinen Arbeitszeiten in Deutschland - ausgerechnet in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit - wieder zu verlängern. Dahinter steht eine nobelpreisverdächtige ökonomische Theorie, die man jedoch in einem Satz zusammenfassen kann:

Damit wir wieder mehr Arbeit für alle haben, brauchen wir mehr Wachstum, und damit wir wieder mehr Wachstum bekommen, müssen wir alle mehr arbeiten.

Einfach genial! (Wie die Katze, die sich in den Schwanz beißt.) Dabei geht es auch wohl weniger um die Lösung der Beschäftigungsproblematik als ums Wirtschaftswachstum. Wachstum als Mittel, Wachstum als Zweck, Wachstum auf Biegen und Brechen?

Auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung behandelt in seinem Jahresgutachten 2004/05 (S. 686 ff. im 5. Kapitel) ausführlich die Frage: "Länger arbeiten für mehr Wachstum und Beschäftigung?" Dort heißt es unter anderem:

"Eine Arbeitszeitverlängerung weist zwei wichtige Dimensionen auf. Der eine Aspekt, auf den sich die Auseinandersetzungen hierzulande konzentrieren, besteht darin, dass mit einer höheren Anzahl von Arbeitsstunden ohne Lohnausgleich eine Senkung des Stundenlohnsatzes und damit zumindest eine Sicherung bestehender Arbeitsplätze erreicht und womöglich die Schaffung neuer Arbeitsplätze begünstigt wird. Die zweite Dimension betrifft das Wirtschaftswachstum. Dabei geht es nicht um eine Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich, sondern um die Höhe und die Nutzung des vorhandenen Arbeitsangebots. Konkret: Je höher die Erwerbsbeteiligung ist, in je größerem Umfang Arbeitslosigkeit vermieden wird und je länger die Arbeitszeit der Erwerbstätigen ist, auf einem umso höheren Pfad wächst die Volkswirtschaft. In einer auf mehr Wachstum und mehr Beschäftigung zielenden Wirtschaftspolitik könnte eine Arbeitszeitverlängerung eine wichtige Rolle einnehmen."

Auch Mehrarbeit ohne Lohnausgleich hält der Sachverständigenrat zur flexiblen Lösung unternehmensspezifischer Probleme für sinnvoll - aber: "Von einer generellen Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich sollte man sich hingegen keine merkliche Erhöhung der Anzahl an Beschäftigten versprechen" (Pressemitteilung vom 17.11.2004 zum Jahresgutachten 2004/05).

Eine elfprozentige Arbeitszeitverlängerung ohne Lohnausgleich hatte beispielsweise Hans-Werner Sinn, Professor für Nationalökonomie und Finanzwissenschaft und Präsident des ifo Instituts im ifo Standpunkt Nr. 47 vom 23. Juli 2003 vorgeschlagen, um auf diese Weise die Stundenlöhne zu senken und international wettbewerbsfähiger zu werden. Forsch meinte der große Wirtschaftsforscher:

"Die Löhne können so viel höher als anderswo sein, wie wir Deutschen besser als andere sind. Um die Wettbewerbsfähigkeit wieder herzustellen, brauchen sie deshalb nicht auf das polnische Niveau zu fallen. Aber es wäre schon gut, wenn der Abstand zu einem Land wie den Niederlanden, der sich in den letzten zwanzig Jahren aufgebaut hat, wieder rückgängig gemacht werden könnte."

Und wie werden die Niederländer, die zu den bedeutendsten Handelspartnern Deutschlands zählen, darauf antworten? Nachdem dort eine lange Periode kräftigen Wirtschaftswachstums (trotz des angeblichen Vorteils des niedrigeren Lohnniveaus) zu Ende gegangen ist, werden da schon die gleichen Parolen ausgegeben wie bei uns. NOVA (www.novatv.nl) berichtet am 3. März 2004 unter Bezugnahme auf die Tageszeitung "De Volkskrant" über einen Vorschlag des niederländischen Wirtschaftsministers Professor Brinkhorst:

"Nederlanders moeten langer doorwerken. De werkweek is te kort en de pensioenleeftijd van 65 jaar is te laag. Dit stelt minister Brinkhorst van Economische Zaken, die hoopt dat langer werken de economische groei aanwakkert." - Ins Deutsche übersetzt: Die Niederländer müssen länger arbeiten. Die Arbeitswoche ist zu kurz und das Rentenalter von 65 Jahren ist zu niedrig. Dies behauptet Wirtschaftsminister Brinkhorst, der hofft, dass Länger-arbeiten das Wirtschaftswachstum anfacht.

Weiter oben auf dieser Seite wurde Professor Walter von der Deutschen Bank zitiert, der das deutsche "Schmalspurwachstum" darauf zurückführt, dass sich der wirtschaftliche Reformwille in Deutschland nicht durchsetze. - Und was hält Professor Brinkhorst vom Reformwillen in den Niederlanden? "Hij vindt dat het land zich te traag aanpast aan nieuwe economische verhoudingen: 'Nederland is extreem slecht in het doorvoeren van structurele veranderingen.'" Er findet, dass das Land sich zu träge an neue wirtschaftliche Verhältnisse anpasst: ‘Die Niederlande sind extrem schlecht in der Durchführung struktureller Veränderungen’.

Dabei sorgt sich der niederländische Wirtschaftsminister laut NOVA, dass die Europäer in den kommenden Jahren langsam ärmer werden, während Chinesen und Inder "in sneltreinvaart rijker worden", also im Schnellzugtempo reicher werden, und meint, Europa und vor allem die Niederlande müssten sich eindeutig entscheiden für mehr Wirtschaftswachstum: "voor meer economische groei".

Was soll man dazu sagen? Soll Europa mit China und Indien um die Wette wachsen? Hat der Minister wohl eine richtige Vorstellung von der verbreiteten Armut in Indien und den immer noch sehr bescheidenen Verhältnissen in China, zumindest auf dem Lande, und überhaupt von den großen ökonomischen Disparitäten in der Welt? Dazu eine Tabelle der größten Volkswirtschaften, unter anderem mit dem BIP pro Kopf und dem BIP pro Quadratkilometer.

Im Übrigen hat die Aufholjagd wirtschaftlich rückständiger Länder ihren Preis und ihre Risiken, besonders in China, dem alten "Land der Mitte", wo jeder fünfte (!) Erdenbürger zu Hause ist und wo das Pro-Kopf-BIP zurzeit noch kaum halb so hoch ist wie beispielsweise in Polen: "Der wirtschaftliche Boom in China hat eine gefährliche Schattenseite: Große Umweltprobleme und neue Krankheiten bedrohen Land und Menschen. Der ansteigende Konsum nach westlichem Vorbild wird die negativen Folgen für die Umwelt weiter verstärken und globale Konsequenzen haben" (Bericht des Presseportal unter Bezugnahme auf die März-Ausgabe 2004 von National Geographic Deutschland).

Anlässlich einer Sitzung des Nationalen Volkskongresses in Peking berichtet die Financial Times Deutschland am 5. März 2005 unter dem Titel "China drosselt Wirtschaftswachstum":

"Im vergangenen Jahr war die chinesische Wirtschaft um 9,5 Prozent gewachsen und erreichte damit die höchste Steigerung binnen acht Jahren. In Wirtschaftskreisen wurden jedoch zunehmend Befürchtungen laut, dass dieses rasante Wachstum zu Finanzproblemen führen könnte. Deshalb setzt die Regierung auf eine leichte Drosselung der Konjunktur, wie Wen sagte. Der Anstieg der Verbraucherpreise soll nach seinen Worten auf vier Prozent begrenzt werden. Zugleich versprach der Regierungschef die Schaffung von neun Millionen neuen Arbeitsplätzen."

Und weiter: "Angesichts der wachsenden sozialen Spannungen in der Landbevölkerung, die vom Konjunkturboom nicht profitiert hat, kündigte Wen an, im kommenden Jahr sämtliche Steuern für Agrarbetriebe zu streichen. Die Anhebung des Lebensstandards in ländlichen Gebieten habe für die Regierung oberste Priorität, sagte der Ministerpräsident. Auch sollten Kinder aus armen Familien von 2007 an für den Besuch weiter führender Schulen nichts mehr bezahlen müssen."

Und in einer zeitgleichen Meldung von Spiegel-Online wird der Vizechef der chinesischen Umweltbehörde zitiert:

"‘Über 150 Millionen ökologische Migranten, ja womöglich sogar ökologische Flüchtlinge’ seien die Konsequenz des einzig auf Zuwachs ausgerichteten Booms, sagte Vizeminister Pan und malte zum Auftakt der am Sonnabend beginnenden Sitzung des Nationalen Volkskongresses ein drastisches Bild von Chinas Umweltverschmutzung: Ein Viertel der 1,3 Milliarden Chinesen habe keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser, ein Drittel der Städter müsse stark verdreckte Luft einatmen. Weniger als 20 Prozent des städtischen Mülls würden umweltverträglich entsorgt. Vizeminister Pan bezeichnete es als ‘Denkfehler’ anzunehmen, das starke Wachstum - voriges Jahr 9,5 Prozent - werde China zu einem späteren Zeitpunkt finanziell in die Lage versetzen, die Umwelt-, Rohstoff- und Bevölkerungskrise zu bewältigen."

Werfen wir noch einen Blick auf die Grande Nation, unseren wichtigsten Handelspartner (wo die gesamtwirtschaftlichen Wachstumsraten in den Jahren 2001 bis 2003 nach herkömmlichen Maßstäben auch nicht gerade berauschend waren, aber jedenfalls höher als in Deutschland.) Unter dem Titel "Frankreich rückt von 35-Stunden-Woche ab" ziitert FAZ.NET in einem Bericht vom 28. Juli 2004 den Premierminister: "‘Die 35-Stunden-Woche hat das Wirtschaftswachstum seit dem Jahr 2000 getötet’, sagte Raffarin. ‘Wachstum entsteht durch die Arbeit der Franzosen. Diese Wahrheit dürfen wir nicht vergessen.’ Raffarin lobte ausdrücklich den Bericht zweier rechtsbürgerlicher Abgeordneten der UMP, in dem die 35-Stunden-Woche auch für die Wettbewerbsschwierigkeiten Frankreichs verantwortlich gemacht wird."

Fragt sich allerdings, wie viel mehr Arbeitslose es dort ohne die 35-Stunden-Woche gäbe, wenn bei längeren Arbeitszeiten und entsprechend geringerem Personalbedarf noch mehr Stellen abgebaut worden wären, und wie sich dies über die Binnennachfrage und die allgemeine Stimmungslage auf das Wachstum ausgewirkt hätte.

Die FAZ berichtet auch: "Ausgerechnet ein deutsches Unternehmen, das Bosch-Werk in Venissieux bei Lyon, hatte einen Präzendenzfall zur Arbeitszeitverlängerung geschaffen. Die Werksleitung hatte die Beschäftigten vor die Wahl gestellt, entweder 300 Stellen in die Tschechische Republik zu verlagern oder die Arbeitszeit von 35 auf 36 Stunden pro Woche zu erhöhen. 98 Prozent der 820 Bosch-Mitarbeiter stimmten der Arbeitszeitverlängerung zu, sehr zum Ärger der Gewerkschaftsvertreter in Paris. Finanz- und Wirtschaftsminister Sarkozy kritisierte das Vorgehen der Werksleitung als ‘Erpressung’. Er wünsche sich vielmehr Verhandlungen ohne Drohszenarien zur Arbeitszeit." Mehrarbeit im Rahmen einer flexibler Arbeitszeitregelung wird von dem Minister, "der weniger Angst vor sozialen Unruhen als Chirac hat", durchaus befürwortet.

Wenn man jedoch in immer mehr Ländern anfängt, (zur Senkung der Personalkosten und nicht etwa aus Personalmangel) die Arbeitszeiten zu verlängern, bzw. auf die Arbeitszeitverlängerungen der anderen mit Arbeitszeitverlängerungen im eigenen Land reagiert, gehen die erreichten Wettbewerbsvorteile schnell wieder verloren. Im Übrigen ist Wettbewerb auf nationaler Ebene zumindest zwischen den Ländern der EU mit einem gemeinsamen "Binnen"-Markt, einer gemeinsamen Währung (in der Euro-Zone) und einer gemeinsamen Wirtschaftsförderung strukturschwacher Regionen eigentlich eine fragwürdige Idee. Der Wettbewerb findet vielmehr zwischen den einzelnen Unternehmen statt, und zwar im Inland ebenso schonungslos wie international.

Was die internationale Wettbewerbsfähigkeit des viel geschmähten Unternehmenstandorts Deutschland betrifft, so sei hier auf eine Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 10. Februar 2005 hingewiesen. Danach stiegen die deutschen Exporte im Jahr 2004 auf 730,9 Mrd. Euro, während sich die Importe auf 574,2 Mrd. Euro erhöhten. Dies ergab einen Außenhandelsüberschuss von 156,7 Mrd. Euro.

Damit bestätigte sich die bereits in einer Pressemitteilung vom 18. Januar 2005 geäußerte Erwartung, dass der Ausfuhrüberschuss 2004 "den bis dahin historisch größten Handelsbilanzsaldo der Bundesrepublik Deutschland aus dem Jahr 2002 (+ 132,8 Mrd. Euro) nochmals deutlich übertreffen würde." - (Nahezu zwei Drittel des deutschen Außenhandels spielten sich übrigens innerhalb der Europäischen Union ab.)

Die deutsche Leistungsbilanz 2004 insgesamt (mit dem hohen Handesbilanzüberschuss und den jeweils negativen Salden der anderen grenzüberschreitenden Transaktionen:  Dienstleistungen, Erwerbs- und Vermögenseinkommen, unentgeltliche Leistungen und Ergänzungen zum Warenverkehr) wies nach der Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes vom 10.2.2005 (s. o.) unter dem Strich einen Überschuss von 77,9 Milliarden Euro aus.

An der Wettbewerbsfähigkeit kann es also wohl nicht liegen, wenn in Deutschland nicht mehr so hohe gesamtwirtschaftliche Wachstumsraten erzielt werden wie in früheren Zeiten.



Liebe Kapitalisten, liebe Wirtschaftswissenschaftler, liebe Politiker, wie viel Wachstum wollt ihr denn eigentlich - oder mit wie viel Wachstum würdet ihr euch eventuell begnügen? Um 1,5 % bedeuten, wie wir gehört haben, "Schmalspurwachstum". Wären denn vielleicht 3 % pro Jahr (wie sie im Jahr 2000 zum ersten Mal nach der Wiedervereinigung beinahe erreicht wurden) als ‘Normalspurwachstum’ genehm?

Klingt ja eigentlich ganz moderat, verkennt aber den langfristigen ‘Zinseszinseffekt’ solcher Wachstumsraten. 3 % bedeuten etwa alle 23 Jahre eine Verdoppelung. Wie uns ein Mathematiker vorrechnet, wäre aus einem einzigen Cent, der bei Christi Geburt zu einem Zinssatz von 3 % pro Jahr angelegt worden wäre, bis zum Jahr 2002 ein Geldbetrag entstanden, für den man sich theoretisch rund 50.000.000.000.000.000 Tonnen Gold kaufen könnte (bei einem realitätsnahen Goldpreis von 10.000 Euro pro Kilogramm). Siehe Aufsatz von Dr. Jürgen Grahl, Mathematisches Institut der Universität Würzburg: "Wachstumsfetischismus".

Die heutige Weltjahresförderung von Gold liegt allerdings nur bei rund 2.500 Tonnen und die Goldreserven der Deutschen Bundesbank betragen (nach Angaben von Präsident Welteke im Februar 2004) etwa 3.440 Tonnen. Die völlig unrealistischen 50 Billiarden Tonnen, die wie gesagt rein rechnerisch aus einem einzigen, seit Christi Geburt zu drei Prozent jährlich verzinsten Cent bis zum Jahr 2002 entstanden wären, kann man sich auch als massive Goldkugel von 170 Kilometer Durchmesser vorstellen. So wird ihr Geldwert in Höhe von rd. 500 Trilliarden Euro etwas anschaulicher.

(3 % Zinsen bewirken im ersten Jahr nur einen fast lächerlich erscheinenden Anstieg von einem Ausgangswert 1 auf 1 + 0,03 =1,03.
Innerhalb von 2002 Jahren kommt es jedoch zu einer Vervielfachung auf das 1,032002fache des Ausgangswertes. Aus 1 Cent werden auf diese Weise über 50 Quadrillionen Cent, in Ziffern 50.000.000.000.000.000.000.000.000 Cent. Wer’s nicht glaubt, kann es mit einem geeigneten Taschenrechner nachrechnen - oder mit dem Windows-Zubehörprogramm "Rechner" > Ansicht: wissenschaftlich:  1,03  xˆ 2002  =  ...)

Aber vielleicht sind 3 % Wachstum ja noch nicht genug. "Hätten wir das Beispiel mit 5% statt 3% gerechnet", so der Mathematiker, "so wären wir im Jahr 2002 bereits bei 441 Milliarden Goldkugeln vom Gewicht der Erde angelangt!"

Zwei Jahrtausende sind zwar ein langer Zeitraum, aber am Anfang dieser Rechnung steht ja wie gesagt nur ein einziger Cent. Das BIP Deutschlands hat jedoch bereits weit über zwei Billionen Euro erreicht, genauer: 2.177 Milliarden Euro in jeweiligen Preisen (im Jahr 2004). Das sind 217.700.000.000.000 Cent.

Wie lange soll denn ein solches Bruttoinlandsprodukt in unserem geographisch begrenzten Inland noch um mehrere Prozent jährlich - real - weiterwachsen? Das geht ja nicht ohne die Erweiterung von Produktionsanlagen, den Ausbau der Verkehrsinfrastruktur, von öffentlichen Einrichtungen zur Ver- und Entsorgung usw.

Nehmen wir zum Beispiel das wachsende Verkehrsaufkommen, beispielsweise in Nordrhein-Westfalen. Der heutige Bundesminister für Wirtschaft und Arbeit und frühere Ministerpräsident von NRW sagte im März 2002 in einer Regierungserklärung vor dem Düsseldorfer Landtag:

Sie alle, wir alle, kennen die Verkehrssituation in dem am stärksten verdichteten Ballungsraum Deutschlands, in der Rhein-Ruhr-Region zwischen Dortmund, Duisburg, Düsseldorf und Köln.
Dort geht zu bestimmten Zeiten und auf manchen Straßen nichts mehr - trotz der umfangreichen Anstrengungen, die wir im Straßenbau unternehmen, damit der Verkehr fließen kann, trotz aller Bemühungen, um mit der Entwicklung des Güterverkehrs Schritt halten zu können, trotz einer Vielzahl von Initiativen und Projekten, um den ÖPNV in unserem Land attraktiver und leistungsfähiger zu machen.
Wir haben im bundesweiten Vergleich das dichteste Straßennetz mit der weitaus höchsten Auslastung und wir stehen vor einer weiteren Mobilitätswelle.
Alle Prognosen über das künftige Verkehrsaufkommen sagen uns: In einem offenen, noch enger zusammenrückenden Europa werden sich die Probleme weiter verschärfen. Gerade in Nordrhein-Westfalen und gerade in der Rhein-Ruhr-Region.
Hier ist die Politik in außergewöhnlicher Weise gefordert. Die Sicherung der Mobilität von Menschen und Gütern, die Gewährleistung einer Infrastruktur auf der Höhe modernster Technologie, ist von elementarer Bedeutung für einen Wirtschaftsstandort vom Rang Nordrhein-Westfalens.
Wir müssen auf die Mobilitätsbedürfnisse der Menschen und der Unternehmen adäquate Antworten geben. Wir werden darum die Leistungsfähigkeit unserer Flughäfen weiter erhöhen, wir werden unser Straßen- und Schienennetz ausbauen, wir werden das Wasserstraßensystem erweitern und wir werden das Leistungsangebot des ÖPNV konsequent weiter verbessern und erweitern.

So weit der frühere NRW-Ministerpräsident und heutige Bundeswirtschaftsminister Clement. Auch in anderen deutschen Regionen kennt man derartige Probleme und will auf Teufel komm raus "erhöhen" - "ausbauen" - "erweitern".

"Städte und Gemeinden im Zwiespalt. Landschaftsverbrauch reduzieren oder Bauland erschließen?" titelt eine Pressemitteilung des Gemeindetages Baden-Württemberg vom 6.7.2002. "12 Hektar werden in Baden-Württemberg täglich bebaut - eine Zahl, die auch Kommunalpolitiker erschreckt. Aber auch für genügend Wohnraum und Entwicklungschancen des Gewerbes sind Städte und Gemeinden verantwortlich." Auch Ministerpräsident Teufel habe die Kommunen erst kürzlich wieder daran erinnert, genügend Flächen für Wohnen und Gewerbe in ihre Flächennutzungspläne aufzunehmen.

Wie bereits an anderen Stellen auf dieser Website erwähnt, hatte das Statistische Bundesamt 1999 den Zusammenhang zwischen Flächeninanspruchnahme und Wirtschaftswachstum in einer Studie "Zur Interpretation und Verknüpfung von Indikatoren (Interlinkages)", Anlage 2 zum Bericht der Bundesregierung vom April 2000 zur "Erprobung der CSD-Nachhaltigkeitsindikatoren in Deutschland", untersucht und festgestellt:

"Würde sich der lineare Zusammenhang fortsetzen, so ist leicht ermittelbar, daß bei einem realen Wachstum von jährlich 2 oder 3 % in 121 bzw. 81 Jahren rechnerisch die Siedlungs- und Verkehrsfläche die gesamte Fläche der alten Bundesländer in Anspruch nehmen würde. Natürlich wird diese Entwicklung so nicht eintreten. Der Zusammenhang verdeutlicht jedoch anschaulich, daß dem Phänomen der Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Flächenverbrauch in den nächsten Jahren eine erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet werden muß."

In einer Pressemitteilung vom 8.11.2004 meldete das Statistische Bundesamt: "Die Siedlungs- und Verkehrsfläche hat in Deutschland im Jahr 2003 insgesamt um 341 km² oder 93 ha/Tag zugenommen. ... Ziel der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ist es, die tägliche Inanspruchnahme neuer Siedlungs- und Verkehrsflächen bis zum Jahr 2020 auf 30 ha/Tag zu reduzieren. Bereits seit drei Jahren weist die Entwicklung dieser Größe in die angestrebte Richtung. Der aktuelle Verlauf der Flächeninanspruchnahme dürfte insbesondere durch die schwache konjunkturelle Entwicklung und den weiteren Rückgang bei den Bauinvestitionen geprägt sein."

In dem erwähnten Zeitraum von drei Jahren mit rückläufiger Flächeninanspruchnahme (2001 bis 2003) betrug das Wirtschaftswachstum ja auch nur 0,8 %, 0,1 % und minus 0,1 %. Dennoch wurden 2003 pro Tag noch rund 93 Hektar (= 930.000 Quadratmeter) unbebauter Landschaft in Siedlungs- und Verkehrsfläche umgewandelt. "Zwischen 1993 und 2000", so das Statistische Bundesamt, "hatte sich die Zunahme noch von 120 ha/Tag auf 131 ha/Tag beschleunigt." 2000 war auch das Jahr mit dem stärksten Wirtschaftswachstum (2,9 %) seit der deutschen Wiedervereinigung.


Das heutige BIP Deutschlands beträgt (unter Berücksichtigung der Kaufkraftparität) etwa ein Fünftel des gesamten BIP der Europäischen Union einschließlich der 2004 beigetretenen Länder.

Bei 3 % stetigem Wirtschaftswachstum würde sich das deutsche Bruttoinlandsprodukt innerhalb von etwa 55 Jahren verfünffachen (1,0355 = rd. 5,08).

Und damit wäre das deutsche BIP ebenso groß wie das heutige gemeinsame BIP von Deutschland, Großbritannien, Irland, Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich, Spanien, Portugal, Griechenland, Italien, Österreich, Dänemark, Schweden, Finnland, Estland, Lettland, Litauen, Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Slowenien, Malta und Zypern.

Sind Zweifel daran erlaubt? Allein schon die Vorstellung von dem damit zunehmenden Güterverkehr auf den Straßen Deutschlands erscheint doch total irrwitzig (zumal die Gütertransporte auch durch das Wirtschaftswachstum der Handelspartner noch gigantisch zunehmen müssten).

Dabei sollte man (neben der Bevölkerungsdichte) das heute bereits erreichte BIP pro Quadratkilometer berücksichtigen. Von den aufgeführten Ländern übertreffen nur die kleine Mittelmeerinsel Malta, die drei Benelux-Staaten und (ganz knapp) Großbritannien (d. h. das Vereinigte Königreich von GB u. Nordirland) den hohen deutschen Durchschnittswert. West-Deutschland allein liegt mit seinem BIP/km² auch noch deutlich vor Großbritannien und selbst Ost-Deutschland erreicht immerhin den Gesamtdurchschnitt der 15 alten EU-Länder. (Vgl. Tabellen mit entsprechenden Angaben für das Jahr 2002 zu den 15 EU-Staaten und den seinerzeitigen 10 Beitrittskandidaten. Dort finden Sie auch Links zu den zugrunde liegenden Daten der Weltbank.)


Die Klagen über das so genannte Angstsparen der Konsumenten und die speziellen Entwicklungsprobleme Ostdeutschlands sind ja nicht unberechtigt. Aber was das gesamtdeutsche Problem der Massenarbeitslosigkeit betrifft, so müssen wir uns wohl was anderes einfallen lassen, als immer nur darüber zu palavern, "wie wir wieder Wachstum kriegen".

Trotz des dauernden Geredes vom Gürtel-enger-schnallen reicht die Wirtschaftskraft Deutschlands durchaus, um allen seinen Bewohnern einen akzeptablen Lebensstandard zu sichern, denn das BIP je Einwohner - ob erwerbstätig oder nicht - war noch nie so hoch wie im Jahre 2004 und ist (in konstanten Preisen von 1995 gerechnet) um über 65 Prozent höher als im Jahre 1970, als Arbeitslosigkeit kaum ein Thema war. Nicht das Volumen des Bruttoinlandsprodukts ist das Problem, sondern dass so viele vom Prozess seiner Erzeugung und den damit verbundenen Einkommensmöglichkeiten ausgeschlossen sind.


Hinweis: Eine Fortsetzung der beiden obigen Tabellen mit Wachstumsprognosen der Wirtschaftsforschungsinstitute und des Sachverständigenrates finden sie unter "neuere Daten (um 2010)", unter dem Titel: Wachstumprognosen und Realität.




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